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Like the very first time

Düsseldorf-Marathon 2006

Ausblick
7. Mai 2006. Zusammen mit mehr als 3000 Mitstreitern bereite ich mich im Startbereich auf den Düsseldorf-Marathon vor. Die meisten Teilnehmer sind in sich gekehrt, ihre Augen starren konzentriert ins Leere. Bange Blicke gehen zur gegenüberliegenden Rheinseite hinüber. Die Choreografie der Streckenführung wird uns bei Kilometer 29 auf die andere Seite und 10 Kilometer später wieder zurück führen. Das heißt, der eigentliche Marathon wird dort drüben stattfinden. Dort fällt die Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg, Glück oder Qual. Bange Blicke auch zum Himmel, an dem sich kein Wölkchen zeigt. Die Sonne wird uns schwer zu schaffen machen, deshalb habe ich mich vorsorglich mit Kappe und Sonnenbrille gerüstet.

Rückblick
Von diesem Ausblick auf die "Stunde der Wahrheit" wandert mein innerer Blick um zwei Jahre zurück. Damals stand ich hier an gleicher Stelle, fürchterlich nervös, in Erwartung meines Marathondebüts. Heute ist mein vierter Marathonstart; die Distanz selbst hat inzwischen ihren Schrecken verloren. Nun ist es die Kombination von geplantem Tempo und der Distanz, welche mir das Kribbeln im Bauch beschert.

Hirn und Herz
"Die ersten 30 Kilometer mit Hirn, die letzten 12 mit Herz", habe ich mir vorgenommen. Beim Treffen am Vortag hatte ich eine Form wie vor einem Jahr in Bonn prognostiziert. Damals war ich nach 3:19:01 im Ziel. Also 4:43 pro Kilometer. 4:36 wäre für eine persönliche Bestzeit notwendig, das erscheint mir aber etwas mutig. Nach reduziertem Pensum im Winter und mehr als zwei Wochen Urlaubspause vor dem Einstieg in die direkte Vorbereitung habe ich noch nicht die Form vom letzten Herbst erreicht.

Nach dem Start zischt das Feld sofort in hohem Tempo los. Praktisch ohne Behinderung kann ich sofort durchstarten. Kilometer 1 taucht auf. Druck auf die Stoppuhr, piep, banger Blick: 4:26! Uups viel zu schnell! Ich versuche, meinen Schritt zu beruhigen, lasse mich aber viel zu sehr mitreißen. Nach 4:28 ist auch der zweite Kilometer passiert.

Ich weiß genau, dass ich zu schnell bin. Die Uhr sagt das, der Pulsmesser sagt das, mein Verstand sagt das. Trotzdem komme ich nicht runter von dem Tempo, soviel zum Thema "die ersten 30 Kilometer mit Hirn". Tausend Ausreden fallen mir ein: Möglicherweise ist die Form doch besser, der neue Trainingsplan bringt alles genau auf den Punkt, und, und, und. Dabei kann man sich selbst nur schwer belügen. Mit solchen Sprüchen beginnt jeder Marathonbericht über die Begegnung mit dem "Hammermann", ich habe genügend davon gelesen. Die Aussicht auf eine tolle Bestzeit spült jegliche Vernunft aus dem Hirn.

Junge Zöpfe
Seit geraumer Zeit baumelt in meinem Blickfeld ein Zopf über einem gelben Triathlon-Top. Die Schultern der Trägerin werden mit jedem Schritt von der Haarpracht ausgepeitscht und sind bereits kräftig gerötet. Das hat schon etwas von Selbstgeißelung. Die Läuferin hat offensichtlich zwei Begleiter als Pacemaker dabei. Nach einem schnelleren Kilometer komme ich näher, nach einem langsameren falle ich etwas zurück. Sie scheinen also sehr gleichmäßig zu laufen. Ich hänge mich hinter die kleine Gruppe, das Tempo fühlt sich gut an. Kann man im Windschatten so viel Kraft sparen? Nee, der nächste Kilometer wird mit 4:46 verbummelt. Ich ziehe vorbei und hoffe, dass ich das Grüppchen vor dem Ziel nicht wieder sehen werde.

Ich versuche, meinen Rhythmus zu finden und ab Kilometer 13 läuft es wirklich rund. Das Tempo habe ich ein wenig reduziert, liege aber auf einem stabilen Bestzeitkurs und habe ein solides Zeitpolster. Jetzt muss ich retten, was nach dem Übermut auf den ersten Kilometern noch zu retten ist. Lockerer laufen, ein paar Körner sparen, Zeit für etwas Kommunikation mit dem Publikum. Bereits ein dankbares Nicken für den gespendeten Beifall bringt ein Strahlen auf die Gesichter. Noch wirkungsvoller ist das Abklatschen der entgegengestreckten Kinderhände, sowohl bei den Kindern, als auch bei deren Eltern. Ein Gruß in Richtung 4., 5. Stock, wo Beifall aus dem Fenster herunterschallt. Kurzes Winken zur Sambaband. Ein einzelner Junge gibt auf der Trompete alles, nun ist es an mir, einmal kurz Beifall zu klatschen. So macht das Laufen richtig Spaß.

Kilometer 21, kurz darauf die Markierung 21,1 auf der Straße. Doch erst in gehöriger Entfernung das Transparent "Halbmarathon" mit den Zeitmessmatten. Merkwürdige Messung, das stimmt nie und nimmer.

Neben der Kapp'
Der Wind wird immer kräftiger und faucht an ungeschützten Stellen heftig über die Strecke. Plötzlich reißt es mir die Kappe vom Kopf. Eine Sekunde Zögern, dann laufe ich die 5 Meter zurück und hebe sie auf - eine kapitale Fehlentscheidung. Nicht wegen der verlorenen Sekunden, aber die plötzlichen Richtungswechsel fahren mir direkt in die Wade. Es fühlt sich an, als würde es sich gleich zu einem richtigen Krampf auswachsen. Wie beim letzten Marathon in Berlin, nach ein paar schnellen Seitschritten an einer Getränkestelle. Zu blöd, hätte ich sie nur liegen lassen. Ganz vorsichtig laufen, nur keinen richtigen Krampf, es sind noch mehr als 15 Kilometer! Nach ca. zwei Kilometern habe ich die Wade etwas weich geklopft und es geht wieder besser. Auf der gegenüberliegenden Seite der Königsallee kommt mir das Führungsfahrzeug entgegen. Einer der Kenianer scheint zu führen und hat nur noch zwei Kilometer vor sich. Kurz darauf folgt Martin Beckmann, das müsste Platz zwei sein, tolle Leistung.

L'Alpe d'Üsseldorf
Erwartungsvoll fiebere ich bereits seit einigen Minuten dem Kilometer 29 entgegen. Dort geht es über die Oberkasseler Brücke, die war vor zwei Jahren das absolute Highlight: Dicht gedrängte Zuschauermassen, ein schmaler Durchgang für die Läufer und eine Höllenstimmung. Die Steigung auf der Brücke ist zwar nicht mit L'Alpe d'Huez zu vergleichen, wohl aber die Atmosphäre. Der Veranstalter weiß natürlich auch, mit welchem Pfund man hier in Düsseldorf wuchern kann und führt die Strecke in diesem Jahr zweimal über diese Brücke. Leider führt das zu geteilter Aufmerksamkeit unter den Zuschauern, denn die Spitze ist bereits wieder auf dem Rückweg. Trotzdem ist die Stimmung noch großartig. Hier kommt mir auch Luminita Zaituc entgegen, die führende Frau. Die Strapazen stehen ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Keine Gnade für die Wade...
...fordert das Transparent einer Zuschauerin. Obwohl ich dem längst Folge leiste, baut der Spruch in etwa ebenso auf wie das obligatorische "Quäl Dich...". Inspirierender ist da schon das Transparent einer anderen Dame: "Speed is Sex, Distance is Love". Weiterführende Überlegungen zu diesem Thema sind mir allerdings nicht mehr möglich, die körpereigene Optimierungs- und Überlebensstrategie hat alle dafür relevanten Körper- und Gehirnregionen abgeschaltet. Leider trifft das auch für meinen Magen zu und den könnte ich derzeit eigentlich noch ganz gut gebrauchen. Bereits seit Kilometer 20 fällt es mir immer schwerer, mehr als ein paar Schlucke zu trinken. Sonst bekomme ich dieses Problem erst ab Kilometer 35. Ich zwinge mich zu ein paar Schlucken aus der Flasche mit der Eigenverpflegung, das meiste werfe ich wieder weg. Wenn mir die Kalorien nur mal am Ende nicht fehlen werden...

Hirni und Schmerz
Kilometer 32. Jetzt wird für den Übermut auf den ersten Kilometern gründlich bezahlt. Der Gegenwind zehrt an den Kräften. Die Sonne hat meine Birne weich gekocht. Die Wade zuckt und krampft. Auch die Adduktoren machen sich bemerkbar. Die Versuchung, einfach stehen zu bleiben, wird immer verlockender. Mein Zeitpolster auf die Bestzeit zerfällt innerhalb von nur drei Kilometern. Selber schuld, hätte ich mich nur an meine eigene Marschroute gehalten; wie kann man nur so dumm sein.

Ich habe mich wie in ein Schneckenhaus zurückgezogen. Die Kappe ist tief ins Gesicht gezogen, die Sonnenbrille verdeckt die Augen. Das Bewusstsein spielt sich vorwiegend im Inneren ab und lässt nur wenig von der Umgebung hereindringen. Einziger Lichtblick: Die Zahl der verbleibenden Kilometer bis zum Ziel wird nun einstellig. Das sieht vor meinem geistigen Auge irgendwie "nah" aus. Auf! - Ab Kilometer 38 kannst Du dann die Oberkasseler Brücke wieder sehen. Das muss doch den letzten Push geben.

Auf einmal wird mir bewusst, dass ich keinen Läufer mehr vor mir sehe. Ok, es ist wieder etwas winkliger, aber so 200, 300 Meter weit kann ich trotzdem die Strecke sehen. Bin ich denn überhaupt noch auf der Strecke?!?! Aber die Zuschauer sind doch da, wo soll ich sonst sein... Erst ein ängstlicher Blick zurück beruhigt meinen Schrecken. Wenn auch mit reichlich Abstand, so sind doch ein paar vereinzelte Mitstreiter zu sehen.

Das Feld hat sich unglaublich auseinander gezogen. Obwohl ich deutlich langsamer geworden bin, werde ich erstaunlich selten überholt. Hitze und Wind setzten allen gleichermaßen zu. Ab und zu jagt allerdings ein "Tapp, Tapp, Tapp" von hinten heran, welches überhaupt nicht zum vorherrschenden Trott passt. Wieder einmal ein Staffelläufer - in meinem jetzigen Zustand ist so etwas wirklich schwer zu ertragen.

Vom Winde verweht
Dann bin ich tatsächlich auf der langen Geraden zur Brücke, inzwischen auch wieder mit Läufern in Sichtweite. Die Zuschauermenge am Horizont ist nicht ganz so dicht, wie vor zwei Jahren. Sie verteilt sich weiterhin auf beide Richtungen, da viele Läufer noch auf dem Hinweg sind. Aber die Stimmung ist immer noch gut. Sie soll mich die letzte Steigung hinauftragen.

Kaum habe ich den Anstieg die Brücke hinauf begonnen, peitscht mir eine Windböe mit Wucht entgegen und bringt mich beinahe zum Stillstand. Es geht kaum vorwärts, jeder Schritt ist ein Kampf. Bei einem Trainingslauf wäre ich die nächsten Meter gegangen, langsamer wäre das auch nicht. Vor all den Zuschauern lässt das die Eitelkeit nicht zu. Außerdem will ich den Nimbus "keinen Marathon mit Gehpausen" weiterhin bewahren. Wann ist denn endlich der Scheitelpunkt erreicht? Der "längste" Kilometer dauert mehr als fünfeinhalb Minuten. Endlich spüre ich die Unterstützung der Schwerkraft und lasse mich auf die letzten drei Kilometer treiben.

Ob ich noch langsamer werde, oder nicht, ist mir inzwischen völlig schnuppe. Ins Ziel werde ich kommen, egal wie! Es geht auf die Königsallee, die Zuschauer werden wieder lauter. Das klingt nicht mehr nach Antreiben, mehr nach Ermutigung. Man sieht wohl allen Läufern die Erschöpfung an.

Endlose Minuten. Vorwärts... Weiter... Es muss, es muss, es muss klappen! Wieder eine Kurve, immer noch kein Rhein in Sicht. Noch eine, und noch eine...

Big points
Dann taucht die Zielgerade auf, Kilometer 42! Große Punkte auf dem Asphalt markieren die letzten Abschnitte: Noch 200 Meter... Noch 100 Meter... Die Fotografen liegen im Anschlag. Ich ziehe mit einer Hand die Kappe vom Kopf, mit der anderen Hand die Sonnenbrille. Heraus aus dem Schneckenhaus, das ist mein Finish! Ein paar tolle Zuschauer heizen noch einmal lautstark ein. Die Ziellinie: Geschafft!

Die Uhr bleibt stehen: 3:19:01! Ungläubig starre ich auf die Ziffern: Auf die Sekunde genau meine Zeit vom Bonn-Marathon 2005!

Olé!
Ich schnappe mir einen Becher Wasser, bekomme aber kaum etwas herunter. Der Magen will noch nicht mitspielen. Auf zu den Finishermedaillen, welche von ein paar Cheerleadern verteilt werden. Eine der Damen präsentiert gerade das Halsband der Medaille, wie ein Torero die Capa. So eine Gelegenheit lasse ich mir natürlich nicht entgehen, also gebe ich den Stier und trabe mit dem Kopf voraus in das Halsband hinein.

Mein Magen sträubt sich weiterhin gegen das Wasser. Nachdem ich ein paar Mal an einem Becher genippt habe, lasse ich es lieber sein. Möchte mich nicht unbedingt zu dem Mitstreiter gesellen, der sich ein paar Meter weiter über einem Mülleimer erleichtert. Mit Cola geht es dann etwas besser, das bringt zur Flüssigkeit sogar noch reichlich Zucker.

Wahnsinn: Am Massagezelt gibt es fast keine Warteschlangen! Schnell stelle ich mich an und keine zwei Minuten später bin ich an der Reihe. Als ich versuche, die Schnürsenkel zu lösen, fährt mir endgültig der Krampf in die Wade. Egal, wenn schon ein Krampf, dann ist das hier der bestmögliche Ort dafür. Ich lasse mich auf die Liege kippen. Durch den Nebel von Erschöpfung und desolatem Kreislauf erscheinen zwei feengleiche Wesen, Anke und Katinka. Mit Zauberhänden kneten sie aus den Betonpfeilern an meinen Unterschenkeln wieder ein paar leidlich funktionsfähige Waden. Deutlich erholt, schlurfe ich aus dem Zelt.

Es ist vollbracht. Eigentlich eine anständige Zeit, insbesondere in Anbetracht von Hitze und Wind. Aber beim nächsten Mal werde ich trotzdem besser wieder das Gehirn einschalten. Hoffentlich.




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