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Die Wilde 13

Stuttgarter Zeitung-Lauf 2007

Stuttgarter Zeitung-Lauf 2007, Startblock "Grün". Schon beim Aufstellen in meinem Startblock wird eine Verzögerung um ca. 10 Minuten angekündigt. Na ja, 10 Minuten sind ja nicht so schlimm. Ich stelle mich jedenfalls gleich ganz vorne auf, denn hier in Stuttgart gibt es trotz 10.000 Halbmarathon-Teilnehmern nur 4 Startblöcke und ich habe keine Lust auf mehrere Kilometer Slalomlauf.

Schnell wird es kuschelig eng. Während solch beengte Platzverhältnisse bei kühleren Temperaturen gar nicht so unangenehm sind, bräuchten wir heute ohnehin nicht zu frieren. Die Wettervorhersage hatte in den letzten Tagen täglich zwei Grad draufgelegt, die Sonne steht bereits über den Bäumen und es ist schon reichlich warn.

LKWeh
Auch 15 Minuten nach dem geplanten Start geht es immer noch nicht los. Ein LKW soll im Weg stehen und muss abgeschleppt werden. Hatten wir das nicht auch schon im letzten Jahr? Die Warterei macht nicht sonderlich Spaß, besonders wenn man sich - eingeklemmt zwischen all den Läufern - praktisch nicht bewegen kann. Nur gut, dass ich mich kaum aufgewärmt habe, das wäre nun ohnehin für die Katz.

Der Ansager am Mikrofon zählt zum x. Mal die Favoritinnen und Favoriten auf; Interviewpartner sind ihm längst ausgegangen. Was nicht unbedingt ein Fehler ist, denn die Beschallungsanlage läuft mit reichlich übertriebener Lautstärke und dröhnt mir schwer in den Ohren. Als eine völlig aufgedrehte Cheerleaderin ihre Anfeuerung für irgendeinen Verein ins Mikro kreischt, reißt mir beinahe das Trommelfell.

Die Stimmung im Feld beginnt zu kippen. Erneut wird durchgegeben, dass die Strecke noch nicht freigegeben ist. Erste Pfiffe gellen. Ich stehe nun seit einer Dreiviertelstunde beinahe bewegungslos auf der Stelle. Sobald ich versuche, meine fast eingeschlafenen Beine zu bewegen, stehe ich einem Hintermann auf den Zehen. Sollen sie die Scheißkarre doch endlich wegsprengen!

Hilflos gibt der Ansager noch ein paar Anekdoten aus der gestrigen Zeitungsbeilage zum Besten. Da gibt es dieses Paar, welches sich beim Stuttgartlauf gefunden hat und demnächst heiraten möchte. Wir könnten uns also in der Zwischenzeit ruhig einmal im Startbereich umsehen. "Willsch mich heiraten?" fragt ein Nachbar sarkastisch meinen Nebenmann ...

Nach einer halben Stunde Verzögerung geht dann plötzlich alles sehr schnell. Zwei Minuten nach dem der erste Block auf der Strecke ist, kracht der Startschuss auch für mich. Nachdem man im letzten Jahr feststellen musste, dass man mit ein paar Absperrbändern das aufrückende Feld nicht halten kann, sorgen diesmal Metallgitter für einen geregelten Ablauf.

Lohn der endlosen Warterei in den ersten Reihen ist nun die freie Bahn gleich ab dem ersten Meter. Mit meinen steifen Beinen habe ich keinerlei Tempogefühl, also stürme ich einfach mit dem Feld drauflos. Das ist normalerweise natürlich immer viel zu schnell, andererseits ist der 1:30-Pacemaker bereits ein ganzes Stück vor mir und etwa in diesem Zeitbereich wollte ich eigentlich schon laufen.

Zur falschen Zeit am falschen Ort
Kilometer 1 passieren wir in 4:06. Also doch zu schnell. Der Pacemaker hat wohl auch auf seine Uhr gesehen und steigt voll in die Eisen. Ich krache beinahe auf den Läuferpulk in seinem Schlepptau. Bis zum zweiten Kilometerschild hänge ich mich an seine Gruppe, dann setzte ich mich ein wenig ab, um vor der ersten Getränkestelle aus dem schlimmsten Getümmel heraus zu kommen.

Die Streckenführung durch Bad Cannstatt ist mir wohl bekannt, schließlich ist das inzwischen meine fünfte Teilnahme am Stuttgarter Halbmarathon. Nebenbei habe ich beim Stöbern in meinem Lauftagebuch festgestellt, dass dies heute insgesamt mein 13. Halbmarathon ist. Nur gut, dass ich nicht abergläubisch bin ...

Die erste Getränkestelle ist erreicht und ich schnappe mir zwei Becher Wasser. Die Reihenfolge "Trinken, einen Becher über dem Kopf auskippen, Schwamm eintauchen" erweist sich als äußerst unpraktisch. Noch während des Trinkens komme ich an den Wasserwannen für die Schwämme vorbei und nun läuft das Wasser gleichzeitig aus zwei schwappenden Bechern und dem triefenden Schwamm. Oh Mann, auf meine tolle Wettkampferfahrung kann ich mir wirklich nichts einbilden! Das üben wir heute noch ein paarmal.

Windiger Geselle
Ein Läufer vor mir kämpft mit grässlichen Blähungen und zündet gerade ein paar herzhafte Kracher. Der alte Läuferwitz "hinten heraus noch Gas geben können" geht mir durch den Kopf. Hey! - Obwohl wir einen Freiluftsport betreiben, sollte man sich doch - genau wie beim Ausspucken - gefälligst erst einmal umsehen, ob sich Mitstreiter in der näheren Umgebung befinden! Quälend langsam kämpfe ich mich an ihm vorbei.

Wieder eine Getränkestelle. Von zwei plötzlich abstoppenden Vorderleuten werde ich böse ausgebremst, aber die Koordination klappt diesmal besser. Den ersten Becher schnell über den Kopf, einen zweiten geschnappt, den Schwamm in die Wanne getaucht und dann trinken. Na bitte, geht doch!

Ach nee! Während ich am Stand aufgehalten wurde, hat sich Mr. Flatulenz wieder an mir vorbei geschlichen und im wahrsten Sinne des Wortes vor meine Nase gesetzt. Ich flüchte auf die andere Straßenseite, dort gibt es gerade ohnehin mehr Schatten.

Spiel mir das Lied vom Halbmarathon
Die Strecke führt uns nun ungeschützt an den Weinbergen entlang und die Sonne kann ihre volle Wirkung entfalten. Die Temperaturen steigen und meine Kilometerzeiten gehen in den Keller. Na ja, schieben wir mal nicht alles auf die Temperaturen, zu schnell angegangen bin ich wohl auch wieder ...

Als es zum ersten Mal über den Neckar geht, kreist ein großer Greifvogel über uns. Ob die Geier bereits nach Opfern Ausschau halten? Meine Beine fühlen sich jedenfalls schon furchtbar schlapp an. Der Münchinger Stadtlauf vor einer Woche steckt mir anscheinend doch noch etwas in den Knochen.

Ein Anwohner steht am Straßenrand und hält eine Brause auf die Strecke. Ich ziehe meine Kappe und genieße mit ausgebreiteten Armen die Abkühlung - Danke! Überhaupt können wir über das Publikum nicht meckern, es scheinen in jedem Jahr mehr Zuschauer zu werden und die Stimmung ist über weite Strecken sehr gut.

Wieder einmal geht es bergauf. Nicht schrecklich steil, aber trotzdem irgendwie fies. Wildes Stöhnen ist zu hören. Entweder werden in den anliegenden Häusern bei offenem Fenster Ferkelfilme konsumiert, oder mein Hintermann pfeift schon auf dem letzten Loch.

Die 10-km-Marke passiere ich nach 42:37. Das würde gerade zur 1:30 reichen, aber ich habe auf den letzten Kilometern bereits eine Menge Zeit verpulvert. Mein Sekundenpölsterchen ist wie Schnee in der Sonne geschmolzen. Ich reiße mich zusammen und schaffe noch einmal einen Kilometer im Soll, aber schon der Abschnitt darauf ist wieder deutlich zu langsam. Nein, die eineinhalb Stunden Marke werde ich heute nicht packen.

Immer wieder werfe ich ein paar bange Blicke auf meine Startnummer. Im letzten Jahr hatte die sich irgendwann von den Sicherheitsnadeln verabschiedet. Heute hält sie noch durch, die vormals runden Löcher haben allerdings eine verdächtig längliche Form angenommen und nähern sich gefährlich dem Rand.

Fronkraisch, Fronkraisch
Plötzlich sehe ich vor mir den berühmten Michel "Monsieur Baguette" Descombes. Genau wie beim letzten Bonn-Marathon, mit Clownkostüm, Perücke in den französischen Landesfarben und dem legendären "Zuschauer haltet durch!"-Schild auf einem Baguette. Ich schmettere ihm ein "Bonjour" entgegen und er grüßt lachend zurück.

Kilometer 19. Das Daimlerstadion scheint in greifbarer Nähe. Doch wieder und wieder geht es um eine neue Kurve und um noch einen Block. Aber es ist immer wieder erstaunlich, wie das Adrenalin noch einmal Reserven frei machen kann. Endlich jage ich über die lange Gerade auf das Stadion zu. Die Kameras der Fotografen klicken. Da hätte ich eigentlich Kappe und Sonnenbrille absetzen können, jetzt werde ich mich auf den Bildern wieder selbst kaum erkennen. Egal, für Eitelkeiten ist jetzt keine Zeit mehr. Eine Rechts-, eine Linkskurve, dann bin ich in das Marathontor eingetaucht und vor mir breitet sich der Innenraum mit seiner grünen Laufbahn aus. Wie immer ist der Empfang im Stadionkessel überwältigend. Wehte hier vor einem Jahr noch der Hauch des WM-Spiels um Platz 3, so atme ich heute einen Rest Meisterschaftsatmosphäre.

Im Bann der Bahn
Die letzte Kurve der weichen Kunststoffbahn katapultiert mich förmlich auf die Zielgerade und ich fliege ins Ziel. Die Uhr stoppt bei 1:30:38, angesichts der Temperaturen bin ich sehr zufrieden.

Etwas wehmütig geht mein Blick die gewaltigen Zuschauerränge hinauf. Wird es diese grandiose Kulisse weiterhin auch für uns Läufer geben? Aktuelle Bestrebungen, die gerade ein Jahr "alte" Laufbahn einem Umbau zum reinen Fußballstadion zu opfern, würden ein Ende der Leichtathletikveranstaltungen in diesem schönen Stadion bedeuten. Dabei habe ich hier ebenso gerne die Spiele des VfB wie auch das Weltfinale der Leichtathletik gesehen, und dieser Laufveranstaltung hier mit ihren insgesamt 20.000 Teilnehmern würde das Highlight geraubt. Es bleibt die Hoffnung und mein Autogramm auf der Unterschriftenliste der Aktion "Ja zur Bahn".




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